Vor wenigen Tagen war Muttertag. Eigentlich der perfekte Tag, um diesen Beitrag online zu stellen, immerhin soll es um meine Mama gehen. In all ihren Facetten. Ich könnte jetzt sagen, dass ich den Muttertag nicht als Promotiontag benötige, sondern jeder Tag der Tag der Wertschätzung sein sollte. Sehe ich auch tatsächlich so, nichtsdestotrotz hat die ‘verspätete’ Veröffentlichung nicht viel damit zu tun. Streng genommen ist dieser Beitrag schon Jahre zu spät, denn ich sitze gedanklich bereits Jahre an ihm. Warum ich mich so schwer tue? Zum einen, weil es mich emotional sehr aufwühlt, ich spüre beinahe den Schmerz, den meine Mutter spürt in jeder einzelnen Faser meines Seins und ich überlege, auch jetzt in dieser Sekunde, ob ich einen solchen sehr intimen Beitrag, der nicht von mir handelt, überhaupt verfasse soll. Aber ich möchte, dass meine Mama verstanden wird. Dass begriffen wird, was mit einem Menschen geschieht, wenn man ihn im Stich lässt, über Jahre an ihm zerrt und zehrt und wie man mit ihm am Ende auch noch umgeht… Sie nannten sie mehr als nur einmal verrückt. Doch am Ende war sie nur eine Mutter.
Sollte der Beitrag womöglich an Emotionalität verlieren, dann liegt es einzig und allein daran, dass ich so immer handel, wenn etwas zu intensiv wird. Wenn zu viele (negative) Gefühle hervorgespült werden. Ich beginne automatisch und ohne, dass ich etwas dagegen tun kann, abzublocken und aalglatt zu werden. Einfach aus Schutz heraus vermutlich. Allerdings hoffe ich dennoch, dass ich es schaffe, das Grundgefühl und die Kernaussage richtig rüber zu bringen.
Meine Mama wurde als Mama geboren. Durch und durch. Das erzählt sie mir regelmäßig. Schon mit 9 Jahren übernahm sie die Babysitteraufgaben in der Nachbarschaft, war die Zweitjüngste von fünf Kindern und mit dem Geburtsjahr 1950 ein Nachkriegskind. Sie wuchs liebevoll, wenn auch streng auf, so verstehe ich ihre Erzählungen jedenfalls immer, und wusste schon sehr früh, dass das Mamasein sie vollends erfüllen würde. Unabhängig von der Zeit, in der eine Frau eh grundsätzlich Mutter und Hausfrau sein sollte und unabhängig von ihrer Mutter, die sie früh aus der Schule nahm, damit sie mit 13 Jahren ihr eigenes Geld verdiente. Mit 16 Jahren verlobte sie sich mit meinem Papa und wurde mit 17 das erste Mal Mama. Eine sehr junge Mama, aber alles andere als eine schlechte. Anfang 20 verlor sie ihre Zwillinge durch eine Fehlgeburt und bekam mit 24 Jahren meine kleine große Schwester. Diese erlitt mit gerade einmal zarten 6 Wochen bei einer Operation einen Sauerstoffmangel und somit einen zerebralen Schaden. Kurzum: Ab sofort galt Behinderung 3. Grades. Meine Mama war nun nicht nur eine junge Mama zweier Kinder, sie musste auch noch den Schmerz aushalten, dass ihr Kind niemals seinen eigenen Weg gehen würde. Es immer auf die Gunst und das Wohlwollen Fremder angewiesen war. Niemals das Leben leben konnte, das sie sich für sich ausgesucht hätte. Denn nun entschieden Andere. Und wer realistisch in diese unsere Gesellschaft blickt, der weiß, dass Menschen mit Behinderung keinen guten Stellenwert haben. Und in den 70ern noch einmal ein ganzes Stück weniger.
Wenn ich mir nur vorstelle, meinen Jungs würde etwas passieren und sie würden dadurch einen solchen Schaden nehmen?! Ich würde sterben vor Sorge, vor Trauer, vor Wut. Allein der Gedanke lässt mir sofort Tränen in die Augen schießen. 13 Jahre später kam dann ich. Da war meine Mama schon 37 Jahre und rechnete gar nicht mehr mit mir als Nachzügler. Dabei hätte sie am liebsten einen ganzen Stall voll Kinder gehabt. Trotz allem. Aber manchmal entscheidet das Leben eben anders für einen. Da war meine Mama nun. Mein Bruder mitten im Abi, meine geistig behinderte Schwester, die in den letzten Jahren sehr viel Leid (körperlich & psychisch) durch Gesellschaft und vermeintlich passenden Schulen erleiden musste und dann plöppte ich heraus. Freunde hatten sich in den letzten Jahren verabschiedet, denn immerhin ist ein behindertes Kind ‘anstrengend’. Wir wissen alle als Eltern, dass sich Freunde verabschieden, wenn man Eltern wird. Und wenn es dann noch ein ‘nicht normales’ ist, gehen noch einmal eine handvoll mehr. Keine Freunde, eine Ehe, die in Trümmern lag, ein Kind mit besonders intensiven Bedürfnissen und ein Säugling. Da stand sie. Allein und doch nicht allein.
Wie viel Kraft, im wahrsten Sinne des Wortes, aber auch auf emotionaler Ebene, meine Mama aufwenden musste die letzten Jahrzehnte, verneige ich mich zutiefst vor ihr. Ich wäre vermutlich an allem zerbrochen. Wäre eine garstige Frau und Mutter geworden und hätte vielleicht alles hingeschmissen. Doch sie? Sie war die beste Mama, die man sich wünschen konnte. Sie vereinte Mama und Papa 24 Stunden, 7 Tage die Woche und das alleine. Ohne auch nur einen Tag mürrisch oder ungeduldig zu sein. Sie zeigte nicht einmal, dass sie unglücklich war, gestresst, überfordert oder einfach einmal Urlaub von uns brauchte. Als Kind sieht man natürlich nicht, wie viel das von einem abverlangt. Wenn die Omas nicht wären, würde ich vermutlich so schon Amok laufen ^^. Man nimmt es als Kind als gegeben. Meine Mama war immer unkaputtbar für mich. Ohne einen Makel. Und alles ließ sie so leicht ausschauen. Jeden Urlaub, den sie mit uns Zweien und den Hunden im Wohnmobil wuppte. Jeder x-beliebige Tag. Alles hatte eine gewisse Leichtigkeit. Ich hatte nie das Gefühl, zu viel für sie zu sein. Zu nervig. Zu anstrengend. Für mich war es selbstverständlich, aber ich verstand nicht, wie viel Arbeit, Organisation und Nerven dahinterstand. Und dafür danke ich meiner Mama sehr. Trotz all der Sorgen, ließ sie es uns nie spüren. Sie schaffte eine kleine (mehr oder minder) perfekte Welt, in der wir behutsam, umsorgt und geliebt aufwachsen durften.
Vor allem, weil meine Mutter keinen Tag Urlaub von uns hatte. Niemand, der ihr beide Kinder abnahm. Sie überstand den Krebs und hatte immer uns im Kopf, damit wir bloß nichts Negatives mitbekamen. Sie schlief über 30 Jahre nicht eine Nacht durch, weil meine Schwester nachts ebenfalls sehr fordernd ist und ich als Säugling wohl auch ziemlich viel Aufmerksamkeit benötigte. Sie handelte gewiss anders als ich es in manchen Belangen tun würde, aber sie tat alles aus purster Liebe und mit bestem Wissen und Gewissen. Und ich bin ihr unendlich dankbar! Erst als ich Mama wurde, begriff ich, was sie eigentlich die letzten Jahrzehnte geleistet hat. Was für eine unmenschliche Aufgabe sie mit links wuppte, ohne sich auch nur einmal zu beschweren. Ohne zusammenzubrechen. Immer mit aufrechtem Gang und als Felsen für uns alle ohne selbst einen zum festhalten zu haben. All das Leid, das meine Schwester in ihrem Leben schon erleiden musste, unaussprechliche Dinge, die meine Mama in sich aufsog, der Stress und die Belastung haben sie niemals das Lachen aufhören lassen.
Doch als sie müde wurde. So richtig müde, nach über 40 Jahren der Mutterschaft und all dem Kummer und der schlaflosen Nächte, nannte man sie verrückt. Es wurde erwartet, dass sie sich tadellos kümmert, denn sie sei ja Mutter und Mütter machen das so. Hello Patriarchat. Das ist noch immer so in ihr verankert. Wenn ich mit ihr darüber spreche, dass sie etwas an meinen Papa hätte abgeben können oder sie darauf hinweise, was für eine krasse Leistung das war, relativiert sie es immer wieder. Dein Papa musste ja arbeiten gehen. Es war ja nicht anstrengend, ich liebe euch ja. Auf die Frage hin, ob sie denn nicht erschöpft war, kam allerdings immer: Natürlich war ich erschöpft. Ich konnte nicht mehr. Ich hatte Angst, beim Baden von euch einzuschlafen. ABER ich bin ja eure Mama… Als sie jedoch Unterstützung brauchte, weil eben solche Jahrzehnte an einem zehren und einen ausbrennen, wurde sie fallen gelassen. Abgestempelt. Ihr alle Rechte als Mutter genommen. Und meiner Schwester wurde die Familie genommen. Nicht zu wissen, wie es meinem Kind geht. Nicht selbst entscheiden zu können, wann man es sehen darf. Und sogar zu wissen, dass es misshandelt wird, aber man nichts tun kann. Den Schmerz kann nur eine Mutter nachempfinden. Und ich bin felsenfest der Überzeugung, dass auch der empathischste und liebenste Papa das nicht kann. Denn die Verbindung, die man zu seinen Kindern im Mutterleib aufbaut, die überstrahlt alles. Mein Herz schmerzt so sehr, wenn ich daran denke, dass ich das mit meinen Jungs erfahren müsste. Die Hände zittern, der Kloß im Hals wird riesig, mir wird heiß und ich spüre körperlichen Schmerz allein bei der Vorstellung. Mich zerreisst es zu wissen, wie sehr meine Schwester nach Hause möchte und wie sehr sie leidet. Und ich bin ‘nur’ die Schwester. Die Gefühle, die Hölle, die meine Mama durchlebt, sie müssen unendlich, bodenlos und unaushaltbar sein.
Als ich mit dem kleinen Muck schwanger war, stellte man fest oder sagen wir mal, wurde eine Auffälligkeit bezüglich seiner Nackenfaltentransparenz festgestellt. Das konnte eine mögliche Behinderung bedeuten. Mir blieb so so sehr das Herz stehen und ich hatte Tränen in den Augen. Ich sprach mit meiner Frauenärztin darüber, weil sie mich ja über mögliche Schritte informieren musste und ich teilte ihr meine Unsicherheit mit. Ich war mir nicht sicher, ob ich es behalten würde. Nicht, weil ich es nicht genug lieben könnte. Sondern weil ich es zu sehr lieben würde und weiß, dass die Gesellschaft einfach ein Arschloch ist. Die Vorstellung mein Kind diesen Tieren zum Fraß vorzuwerfen, wäre unaushaltbar gewesen. Daraufhin sagte meine Gynäkologin, dass ich gerade deshalb ein Kind mit Behinderung dennoch austragen sollte. Denn solche Menschen, wie mich, müsste es einfach mehr geben. Menschen, die ihre Liebe nicht an sowas festmachen. Menschen, die den wahren Wert eines Anderen kennen. Und Menschen, die sich gegen den schlechten Part der Gesellschaft behaupten würden. Am Ende ist natürlich alles gut gegangen und der kleine Muck ist vollends gesund. Aber diese paar Wochen des Bangens haben mich schier verrückt gemacht. Sogar Herr T. vergoß Tränen, ob der Möglichkeit, dass sein Kind eventuell nicht die gleichen Möglichkeiten haben könnte.
Ich bin meiner Mama so unendlich dankbar und verstehe erst jetzt, was für eine Leistung sie da absolviert hat und immer noch tut. Wie stark sie eigentlich ist, was viele überhaupt nicht sehen. Selbst Teile der engsten Familie sieht die Stärke dahinter nicht, sondern verurteilt nur den einen Moment der Schwäche. Ich kann ihr niemals wiedergeben, was das alles für mich bedeutet. Wie dankbar ich bin. Wie unfassbar stolz ich bin. Wie sehr ich sie liebe. Und was für ein krasses Vorbild sie für mich ist!
Liebe Sylvi, was für ein toller Beitrag. Ich hatte nach dem Lesen einen Kloß im Hals und konnte (fast) fühlen wie es Dir beim Schreiben ging. Wir haben uns ja nur einmal getroffen, aber Du hast schon damals sehr offen über Deine Schwester gesprochen. Das fand ich anfangs ungewöhnlich, aber nach eine Weile habe ich verstanden, dass es zu Deinem Leben gehört und warum soll man nicht darüber reden. Und wie Du über Deine Mutti schreibst, wundervoll.
Ansonsten, wie schnell die Zeit vergeht. Nun hast Du schon 2 Babies, Glückwunsch. Und natürlich Deiner Familie (zu der ich alle) zähle, alles Gute. Ich bin gespannt was Du noch erlebst.
Herzliche Grüße Kerstin